Christentum

Humanität und Christentum

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Humanes Leben - Humanes Sterben

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Humanität und Christentum werden in einem Atemzug genannt. Das hat da seine Berechtigung, wo man etwa an die aufopfernde karitative Hilfe in Krankenhäusern und Pflegeheimen denkt. Die auf steigenden Verdienst und auf durch Naturforschung ermöglichten Zivilisationskomfort ausgerichtete Gesellschaft, in der wir leben, ist auf von Idealen gelenkte Dienstleistungen angewiesen. Das wird keiner mehr achten als alte Menschen, die auf Hilfe im Alltag angewiesen sind, aber auch Jüngere, die wegen eines Verkehrsunfalls mit Schädel-Hirn-Trauma oder wegen eines Hirnschlages teilweise gelähmt sind und keine Hoffnung in ihrem Leben haben können, je wieder am Leben "draußen" teilhaben zu können.

Das Wohl und Weh von Ideen und Idealen ist nirgendwo besser zu erkennen, als an der Grenze zwischen Leben und Tod, zwischen Noch-Sein und Nicht-Mehr-Sein. Und hier brechen weltanschauliche Differenzen auf. Der Mediziner und Verhaltensforscher KONRAD LORENZ kritisierte den philosophischen Idealismus, der offensichtlich das Denken, das Werten und ethisches Normieren in unserem Kulturraum bestimmt:

"Uns allen, vor allem uns Deutschen, ist von Kindheit auf mit jedem Wort unserer Lehrer und unserer großen Dichter eine platonisch-idealistische Grundeinstellung so radikal eingebleut worden, dass sie uns selbstverständlich ist [ ...]

[Der Entdeckung des eigenen Ichs, dem Beginn der Reflexion über sich selbst], dieser größten aller Entdeckungen, die der Mensch im Verlaufe seiner Geistesgeschichte gemacht hat, folgte der größte und folgenschwerste aller Irrtümer auf dem Fuße: der Zweifel an der Realität der Außenwelt."

Der Hang zu Irrationalität, zu Glauben, zu Religiosität hat sich ohne Zweifel im Laufe der Evolution des Menschen im Lebensraum der Erde parallel zur Entwicklung der Hirnfunktionen und damit der Reflexion über sich selbst herausgebildet. Neurophysiologen meinen den Sitz dieses Irrationalismus im Hirn mit Hilfe des Magnet-Resonanz-Scannings des Gehirns nun aufgespürt zu haben:

"Bestimmte Formen der Epilepsie werden ungewöhnlich häufig von extremer Religiosität begleitet. In solchen Fällen sind die Veränderungen während der Anfälle meist auf den linken Schläfenlappen begrenzt und äußern sich nur selten in Krämpfen oder Bewu"stlosigkeit. Die Betroffenen haben vielmehr das Gefühl einer göttlichen Gegenwart, verfallen in Verzweiflung oder auch in Ekstase [ ...]

Eine Schlüsselrolle bei diesen Erscheinungen schreiben Neurologen dem Limbischen System im Schläfenlappen zu, das für die Verarbeitung von Gefühlen zuständig ist. Wird es stimuliert -- sei es durch Reize von außen oder durch die elektrischen Entladungen während eines epileptischen Anfalls --, spürt der Betroffene eine starke emotionale Erregung.

Interessanterweise sind bei Schläfenlappen-Epileptikern zwar einige, aber nicht grundsätzlich alle Gefühle übersteigert: Die sogenannten Schläfenlappen-Persönlichkeiten reagieren hauptsächlich auf religiöse Wörter und Symbole, sexuelle Bilder dagegen rufen nur sehr gedämpfte Echos hervor. Das deutet nach Ansicht einiger Forscher auf ein Gott-Modul  im Kopf hin, eine spezielle Gehirnregion für Gotteserfahrungen."

Dass es Menschen gibt, die aufgrund ihrer genetischen Vorgaben, ihrer Veranlagung, keinen Hang zu Religiösem haben, ist aus der natürlichen Streubreite der genetischen Vorgaben offensichtlich. Es scheint absurd, Mitmenschen, die aufgrund ihrer genetischen Veranlagung etwa mit nur wenig Nahrung auskommen, als Maß für die Ernährung auch aller anderen als verbindlich zu erklären. -- Der Vergleich zwischen Ernährung und Religiosität hinkt? Nein, beides sind in der Natur der Menschen angelegte Unterschiede, die es zu beachten, zu achten gilt. Man denke nur an den großen Unterschied der menschlichen Sexualität, der Libido, die man politisch zu reglementieren versucht und damit Leid verursacht.

Die große Streubreite individueller genetischer Vorgaben gilt es bei Wertungen, insbesondere bei der politischen Gesetzgebung zu beachten. Andernfalls wird man dem Menschen nicht gerecht, und die als Ideal proklamierte Humanität wird nicht erreicht.

Wenn wir uns Menschen schon aus dem Tierreich erheben, abheben wollen, dann aufgrund unserer Selbstbestimmbarkeit. Aber gerade diese wird uns durch irrationale Ideen eingeschränkt. Die schlimmste Idee ist die religiöse vom Eigentum eines Gottes an unserem Leben. In den Vereinigten Staaten von Amerika beherrscht der Kreationismus als politische Gegenwehr zur naturwissenschaftlich erkannten Evolution das Denken. Die biologische Entwicklung der Spezies Homo sapiens im Laufe der Jahrmillionen irdischer Evolution wird vom Tisch gewischt, ja vehement bekämpft. Eine Lawine von Irrationalismen läuft über das Land.

"Die Folge dieser Unsinnslawine ist: Die mit religiösem Gedankengut infizierten Menschen sind mit rationalen Argumenten kaum mehr zu erreichen und kennen keine Selbstzweifel mehr. Die Vermessenheit tiefreligiöser Menschen, urteilt Philosoph [Daniel] Dennett, ist die gefährlichste Sache in der heutigen Welt."

Gefährlich in zweifacher Hinsicht: Einmal wegen der Rückwirkungen der Natur auf unsere menschliche Hemmungslosigkeit, auf die Idee eines unbegrenzten Wachstums von Bevölkerung und Wirtschaft, und zum anderen wegen der Einschränkung der individuellen Selbstbestimmung. Beides wirkt trotz gegenteiliger Behauptung der Humanität als Leitidee entgegen. Wenn man klugerweise durch rationales Denken die Naturerkenntnis zu einem Primat in der Weltanschauung, im Menschenbild brächte, so wäre dies gleichzeitig eine Befreiung der Selbstbestimmung der Menschen von irrationaler Fremdbestimmung. Dagegen wenden sich aber Theologen geradezu kämpferisch. Man denke auch an die politisch-ideologische Reglementierung der Naturforschung, der Stammzellen-Forschung, aber ebenso an die medizinisch assistierte Beendigung des eigenen Lebens. Auch wenn oder gerade weil die Evolution die Religiosität in die Hirne der Spezies Homo sapiens geschrieben hat, bedarf es großer Anstrengungen im geistigen Bereich, Irrationalismen (hier nicht zu verwechseln mit Arationalismen) aus der politischen Gesetzgebung fernzuhalten.

Wir kennen wohl alle den Kategorischen Imperativ von Immanuel Kant: "Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde." Der Religionsphilosoph HANS JONAS formulierte in Anlehnung daran seinen "kategorischen Imperativ" einer "Zukunftsethik", also teleologisch, zielgerichtet: "Handle so, dass die Wirkungen deiner Handlungen verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden!"

"Wir werden heute angesichts der immer deutlicher werdenden Rückschläge der Natur auf die menschliche Hemmungslosigkeit statt einer notwendigen Anpassung an das Hypersystem Natur den kategorischen Imperativ so formulieren: Handle so, dass die Wirkungen deiner Handlungen keine Rückwirkungen der Natur provozieren, die unverträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden!"

Es ist vielleicht erst beim zweiten Blick zu erkennen, dass die rationale Beachtung der Rahmenbedingungen der Natur für unser menschliches Leben auf der Erde zur Befreiung von Ideologien und Idealogien, zur Befreiung von Irrationalismen führt und in Folge zur Leitidee der Humanität -- und damit auch zur Selbstbestimmung am Ende unseres Lebens.